Syrien: Systematische Gewalt gegen Alawiten?
17. Januar 2025Vor kurzem registrierten die Dörfer rund um die am Mittelmeer gelegene Stadt Dschabla im Norden Syriens ein erhöhtes Militäraufkommen. Die zur Übergangsregierung in Damaskus gehörende Abteilung für Militärische Einsätze hatte auf rund 100 Pickups eine bewaffnete Truppe in die Region entsandt, die dort für Ordnung und Sicherheit sorgen soll. Zudem soll sie höherrangige Mitglieder des gestürzten Assad-Regimes verhaften.
So berichtete es am 14. Januar die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (The Syrian Observatory for Human Rights, SOHR). Diese hat ihren Sitz in Großbritannien und bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk von Aktivisten in Syrien. Die Angaben der Organisation lassen sich oft nicht unabhängig überprüfen, haben sich in der Vergangenheit aber meist als zutreffend herausgestellt, wie Nachrichtenagenturen betonen.
Mit der Entsendung der Truppe reagierte die Übergangsregierung in Damaskus offenbar auf Hilferufe insbesondere der in der Region lebenden Alawiten.
Die Alawiten und die Assad-Familie
Die Alawiten stellten vor dem Revolutionsjahr 2011 unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 10 und 13 Prozent der syrischen Gesamtbevölkerung. Dieser dem schiitischen Islam entspringenden Konfessionsgruppe, die jedoch meist als säkular beschrieben wird, gehört auch die Familie Assad an, die Syrien über ein halbes Jahrhundert diktatorisch regierte. Das Verhältnis der Alawiten zum früheren Regime unter Baschar al-Assad gilt als ambivalent. Einerseits erlangten zahlreiche Alawiten hohe Positionen in dessen Militär- und Sicherheitsapparat und unterstützten das Regime effizient. Andererseits positionierten sich auch viele Alawiten gegen das System. Hinzu kommt, dass auch die Mitglieder anderer konfessioneller oder auch ethnischer Gruppen in Diensten des Regimes standen, wenn auch - in relativen Zahlen - nicht so viele wie bei den Alawiten.
Die Formel von einer angeblich alawitisch getragenen Herrschaft und einer sunnitisch getragenen Opposition zu Zeiten Assads ist darum nur bedingt haltbar. Dennoch müssen die Alawiten oftmals gegen diese Sichtweise ankämpfen - und sind vor allem bei radikalen Islamisten sunnitischer Prägung verhasst, die sie für die Verbrechen des Regimes mitverantwortlich machen. Die jetzigen Machthaber in Syrien entstammen teils diesem Milieu, betonen jedoch, sich davon längst distanziert zu haben.
Gewalttäter mit ungeklärter Identität
In Folge dieser Spannungen kam und kommt es in den Wochen seit dem Sturz des Assad-Regimes Anfang Dezember 2024 nahezu täglich zu gewalttätigen Übergriffen gegen Alawiten - nicht nur in Dschabla und der nördlich gelegenen Küstenstadt Latakia, früher oft als "Assads Stammland" beschrieben, sondern auch in anderen Regionen, etwa rund um die nördlich von Damaskus gelegenen Städte Homs und Hama.
Fraglich ist allerdings, ob die Präsenz der zwischenzeitlich eingetroffenen Milizen die Bürger rund um Dschabla und andere alawitisch dominierte Städte tatsächlich beruhigt. Das SOHR berichtet, in dem Ort Tasnin nahe Homs seien Zivilisten von Milizen attackiert worden, die sich als Mitglieder der Abteilung für Militärische Einsätze ausgegeben hätten.
Unsicher sei allerdings, ob die Bewaffneten tatsächlich der genannten Abteilung angehörten, sagt die Bürgerrechtsaktivistin Mouna Ghanem, Vorsitzende der syrischen Nichtregierungs-Organisation "Syrian Women's Forum for Peace", der DW. "Die meisten dieser Bewaffneten sind maskiert. Wir kennen ihre Identität nicht." Einige Menschen, so Ghanem, vermuten, dass es sich bei den Maskierten um Angehörige des gestürzten Assad-Regimes handele. "Aber das ist eine sehr unpräzise Vermutung, denn dem Regime waren sehr viele Menschen verbunden. Es könnte sich um Alawiten handeln, um ehemalige Angehörige der Armee - wir wissen es nicht."
Einige Bewohner der Region vermuten hinter den Angreifern ausländische Dschihadisten, die in den vergangenen Jahren auch in den Reihen der radikalislamistischen Haiat Tahrir al-Scham (HTS) gekämpft hatten, der auch der neue starke Mann Syriens, Ahmed al-Scharaa, entstammt.
Zahlreiche Fälle von Mord und Gewalt
Es sei offen, was die Gewalttäter bezweckten, sagt Bente Scheller, Syrien-Expertin der Heinrich-Böll-Stiftung. Es könne sich um persönliche Racheakte halten, um ideologisch motivierte Gewalt - oder auch um den Versuch, das neue System zu diskreditieren.
Tatsache ist, dass Bürger in alawitisch geprägten Regionen seit dem Fall des Assad-Regimes am 8. Dezember immer wieder Gewaltakten ausgesetzt sind. SOHR hat bisher 132 Todesopfer registriert, darunter neun Frauen und fünf Kinder.
Die meisten Opfer verzeichnet laut dieser Statistik die Stadt Homs mit 59 Opfern. Es folgt Hama mit 58 Todesopfern. In Latakia starben 25 Menschen. Auch in Damaskus kam es zu tödlicher Gewalt: Dort wurden insgesamt zehn Menschen ermordet. In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Videos von Gewalttaten, die sich allerdings zumindest in ihrem Hergang und Hintergrund oft nicht eindeutig verifizieren lassen.
Hinzu kommen Verhaftungen im großen Stil. Allein in Homs wurden in den letzten Tagen rund 650 Personen verhaftet, berichtetdas SOHR. Diese richten sich offiziell allerdings nicht gegen die Alawiten als solche - sondern gegen ehemalige Funktionsträger des Assad-Regimes. Rund 145 Personen sollen inzwischen wieder freigelassen worden sein.
Machtlose Übergangsregierung?
Die Übergangsregierung stehe vor einem großen Problem, sagt Bente Scheller. "Sie ist ganz offenbar nicht in der Lage, das Land flächendeckend zu kontrollieren. Einige der ehemaligen Rebellengruppen agieren auf eigene Faust, ohne sich für Anweisungen aus Damaskus zu interessieren. Das untergräbt die Autorität der Übergangsregierung enorm."
Ähnlich sieht es Aktivistin Mouna Ghanem. Die Bürger in den alawitisch dominierten Regionen seien mit Blick auf ihre Sicherheit auf Unterstützung aus Damaskus angewiesen. Dazu sei die Regierung aber nicht in der Lage. "Das bringt die Alawiten in eine schwierige Lage, da viele von ihnen in den vergangenen Wochen ihre Waffen abgegeben und damit zu erkennen gegeben haben, dass sie bereit sind, für eine neue Ordnung in Syrien einzutreten. Wenn die Regierung dazu nicht in der Lage ist, sollte sie um ausländische Hilfe bitten."